von Adrian Moser (Bilder) und Daniel Di Falco (Text)
Wobei, «campieren» – das klingt ja, als ob das alles etwas Vorübergehendes wäre. Doch wo sollten sie jetzt noch hin, nachdem sie gescheitert sind vor der letzten, der höchsten Instanz?
Zum Beispiel Nazlija Ismaili (49) aus Stuttgart – sie hatte einen Job in einem Warenhaus, und den verlor sie, während sie krankgeschrieben war. Bei der deutschen Justiz hat sie die Kündigung vergeblich angefochten; nun wünscht sie sich nichts mehr als einen Richter, vor dem sich die Firma verantworten müsste. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies ihre Klage ab.
Das war 2010, und damals fuhr Nazlija Ismaili nach Strassburg, um gegen den Entscheid zu protestieren. Gegen das Unrecht. Gegen die angebliche Korruptheit der Gerichte und sogar der Gewerkschaften in Deutschland. Und das tut sie noch heute. Seit acht Jahren wohnt sie in einem Auto auf einem Parkplatz im Europaquartier, und als sie «Bund»-Fotograf Adrian Moser dort besuchte, war sie eben überfallen und verprügelt worden. Wenn sie wieder ganz gesund ist, will sie in den Hungerstreik treten. Es wäre ihr zweiter. Beim ersten bekam sie Hilfe von Angestellten des benachbarten Europarats, ebenso von der Strassburger Stadtverwaltung, die ihr nun auch eine Wohnung angeboten hat. «Die Leute sind nett», sagt Ismaili, «aber sie verstehen uns nicht.»
Uns? Rund um das Gericht, das die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihren 47 Unterzeichnerstaaten garantieren soll (unter ihnen die Schweiz), hat sich eine Internationale von vielleicht einem Dutzend Klägern niedergelassen. Sie bewohnen Zelte, Verschläge, selbst gebaute Hütten; manchen hat die Stadt mittlerweile eine Parzelle oder einen Schrebergarten überlassen.
Es sind Bürger, die sich von ihren eigenen Staaten verkauft und verraten sehen; Leute mit einer langen Leidensgeschichte, denen Strassburg zur letzten Hoffnung wurde. Und dann, nach der Ablehnung ihrer Klagen, zur Endstation. So wie Jonathan Simpson, ein Engländer, der dreimal täglich am Zaun vor dem Gericht seine Parolen gegen die britische Regierung skandiert, die sich gegen ihn verschworen habe. Der Rumäne Constantin Rusu, der sich seit dem Zusammenbruch des Ostblocks vom Geheimdienst seines Landes verfolgt glaubt, aber nirgends im Ausland Asyl erhalten hat. Oder sein Landsmann Stefan Hladiuc, der den rumänischen Staat unter der gleichen Decke stecken sieht wie seine Schwester, die ihn um das Erbe der Eltern betrogen habe. Und damit um sein Leben.
Schwer zu sagen, wie viel Wahrheit und wie viel Einbildung in diesen Geschichten steckt. Tatsache ist, und davon berichten Adrian Mosers Bilder: Die Kläger sind hier. Und zweimal pro Woche hält ein Bus vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es sind die Ärzte ohne Grenzen, und sie verteilen Lebensmittel.