«Die Voraussetzungen für die Fabrik waren in Uetikon extrem schlecht»

Wirtschaftshistoriker Matthias Wiesmann zur historischen Entwicklung der Chemischen Fabrik Uetikon.

Das Firmenarchiv der Chemischen Fabrik Uetikon, das vor einem Jahr dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv der Universität Basel übergeben wurde, umfasst 40 Laufmeter. Hinzu kommen Fachliteratur, Jubiläumsschriften und Zeitungsartikel. Wie sind Sie angesichts dieser Stofffülle vorgegangen?
Matthias Wiesmann: Ich habe eine Bestandesaufnahme gemacht und festgestellt, dass es für die ersten 80 Jahre nur Rechnungsbücher und schwer lesbare Bündel mit Korrespondenzen und Notizen einzelner Familienmitglieder gibt. Ueli Schnorf, ein entfernter Verwandter der Familie, hat diese Schriften im Rahmen seiner Liz­arbeit entziffert und aus dem heterogenen Quellenmaterial die Entwicklung der Firma rekonstruiert. Für die ersten Jahrzehnte habe ich mich vor allem auf seine Arbeit gestützt. Ab 1900, mit der Gründung einer Aktiengesellschaft, existieren Geschäftsberichte und Verwaltungsratsprotokolle. Sie waren meine Hauptquelle.

Was hat Sie dort am meisten ­interessiert?
Vieles aus der Firmengeschichte ist bereits bekannt. Mir ging es darum, gewisse Aspekte zu vertiefen, und ich wollte ein paar neue Geschichten erzählen. Anhand der Protokolle war spannend herauszulesen, wie die Entwicklung der Wirtschaft oder der eigenen Firma interpretiert und wie wegweisende Entscheidungen getroffen wurden.

Ihre Arbeit erscheint in der ­Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik». Worin besteht das Pionierhafte der Chemischen Fabrik?
Ihre Leistung besteht darin, dass sie Techniken, die es bereits gab, für ihre Bedürfnisse adaptierte. Weil bei gewissen Prozessen der Teufel im Detail steckte, bestand viel Raum für bemerkenswerte Prozessoptimierungen. Was wir heute als Forschung und Entwicklung bezeichnen, fristete allerdings lange Zeit ein Mauerblümchendasein. Bei der Phosphor-elimination in Abwasserreinigungsanlagen gehörten sie aber beispielsweise zu den Pionieren. Das war in den 1960er-Jahren, in Zeiten der überdüngten Seen.

Worin besteht der rote Faden der Firmengeschichte?
Die Chemische Fabrik in Uetikon stand im Prinzip am falschen Ort. Die Voraussetzungen waren extrem schlecht. Es gab immer wieder Schwierigkeiten mit dem Transport und den beengten Platzverhältnissen. Umso bemerkenswerter ist es, dass knapp 200 Jahre an diesem Ort produziert wurde. Die zweite Konstante ist die Produktion von Schwefelsäure. Diese wurde aber für Schweizer Verhältnisse immer untypischer.

Wann setzte diese Entwicklung ein?
Das begann nach dem Ersten Weltkrieg und verstärkte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Chemieindustrie in Basel setzte den Trend. Die Marge auf ihren Farben- und Pharmaprodukten war viel höher als auf Schwefelsäure, deren Produktion sich nur in Massen lohnte. Hinzu kam der Niedergang der Textilindustrie. Viele Abnehmer verschwanden. Schwefelsäure ist ein Ausgangsprodukt für weitere Verarbeitungsschritte. Sie verlor in jüngster Zeit weiter an Bedeutung, weil in der spezialisierten Wirtschaft der Schweiz diese Basisarbeiten oft gar nicht mehr gemacht werden.

Wie muss ich mir die Produktion in Uetikon vorstellen?
Staub, Lärm und Hitze waren allgegenwärtig, ganz zu schweigen von den Gerüchen. Die Arbeit an den Öfen war nicht sehr angenehm. Ende des 19. Jahrhunderts kam die Produktion von Dünger hinzu. Diese wurde bis 2017 am Standort Uetikon aufrechterhalten. Die Chemische Fabrik Uetikon hat definitiv nichts Glamouröses hergestellt. Das musste sie insbesondere in den 1950er-Jahren feststellen, als neue Führungskräfte und Spezialisten gefragt waren. Sie hatten Schwierigkeiten, solche zu finden. Gemäss den Beobachtungen des Verwaltungsrats waren für die damaligen ETH-Absolventen modernere Betriebe und Forschungsstätten, etwa die Atomenergie, viel attraktiver.




Matthias Wiesmann (*1975) hat an der Universität Zürich allgemeine Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Staatsrecht studiert. Er war Leiter des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel und ist inzwischen selbstständig tätig. Er publizierte unter anderem eine Monografie zur Geschichte der Brauereien in der Schweiz und ein Buch zum 150-Jahr-Jubiläum des Kinderspitals in Zürich. Für die Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» steuerte er den Band über die Anfänge der Landis & Gyr bei. 2010 wurde er für die Grünliberalen in den Gemeinderat von Zürich gewählt, den er im Amtsjahr 2015/16 präsidierte.

Matthias Wiesmann: «Familie Schnorf und die Schwefelsäure. Chemische Grossindustrie im kleinen Uetikon.» Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Band 112, herausgegeben vom Verein für wirtschaftshistorische Studien. ISBN: 978-909059-75-1. Das Buch wurde von der CPH initiiert.

40 Prozent des Schweizer Marktes wurde vor zehn Jahren von der heimischen Chemie bedient. Heute sind es noch neun Prozent. Bild: Archiv ETH.

40 Prozent des Schweizer Marktes wurde vor zehn Jahren von der heimischen Chemie bedient. Heute sind es noch neun Prozent. Bild: Archiv ETH.

Die Chemische Fabrik Uetikon schliesst ihr riesiges Fabrikgelände nach 200 Jahren. Bild: Archiv ZSZ.

Die Chemische Fabrik Uetikon schliesst ihr riesiges Fabrikgelände nach 200 Jahren. Bild: Archiv ZSZ.

Wie hat die Chemische Fabrik auf die zurückgehende Nachfrage von Schwefelsäure reagiert?
Sie hat fast alle Konkurrenten aufgekauft. Das half vorerst. Aber die Entscheidungsträger wussten, dass sie dadurch die Firma auf Dauer nicht würden retten können. Sie haben viel Neues ausprobiert, beispielsweise im Bereich der Wasserreinigung und Abfallaufbereitung. Aber es funktionierte nicht wirklich. Einzig die Herstellung von Silicagel und Molekularsieben zahlte sich am Ende aus. Damit sind sie in eine Spezialisierung gekommen, bei der sie bis heute geblieben sind.

Welche Rolle spielte die ­Umweltproblematik?
Bis zu den ersten Gewässerschutzgesetzgebungen eine untergeordnete. Die Führungsriege hat die Belange des Umweltschutzes zwar anerkannt, jedoch lange als übertrieben erachtet. Man hat aber früh versucht, Kreisläufe zu schaffen, damit keine kostbaren Stoffe verloren gingen. Das kam indirekt natürlich auch der Umwelt zugute. Die grössten Schäden richteten Unfälle in der Produktion an, etwa in den 1950er-Jahren an den Rebkulturen rund um die Fabrik. Erst der Brand im Sandoz-Werk Schweizerhalle bei Basel 1986 führte zu einem echten Umdenken.

Schlagen wir den Bogen zu den vorangehenden Teilen dieser Serie. Wie würden Sie die Familie Schnorf charakterisieren?
Sie zeichnet sich durch Fleiss, klares Denken und Bescheidenheit aus. Die meisten Fabrikanten des 19. Jahrhunderts haben prachtvolle Villen gebaut. Sie nicht. Sie lebten jahrzehntelang im Stammhaus neben der Fabrik, wo auch Angestellte untergebracht waren. Später kam das Flury-Haus dazu. Ein schönes Haus, aber beileibe nicht protzig. Die Fabrikinhaber standen lange selber an den Öfen und sassen nicht nur im Büro. Das hat sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts geändert.

Wo zeigte sich der Faktor ­Familie als einengend?
Die Firma hat die Führungspersonen jahrzehntelang aus der eigenen Familie gestellt. Aussenstehende liess sie erst Ende der 1960er-Jahre mitbestimmen. Dadurch fehlte es ihr insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg an innovativer Kraft für die Erneuerung der Produktepalette.

Das Unternehmen ist in den ­Krisenzeiten des vergangenen Jahrhunderts stark gewachsen. War die Fabrik eine Kriegs­gewinnerin?
Nein, das kann man so nicht sagen. Aber sie war in dieser Zeit für die Schweizer Wirtschaft absolut entscheidend. Man benötigte ihre Produkte, unter anderem für die Herstellung von Sprengstoff. Fantasiepreise für die gefragte Schwefelsäure oder den Dünger konnte man trotz Krise nicht verlangen. Und die Nachfrage führte zu Problemen: Die Anlagen wurden überforciert, die Basler Chemie reagierte auf die Uetiker Monopolstellung mit einer eigenen Schwefelsäurefabrik und nach dem Krieg sprangen einige auf sicher geglaubte Kunden wieder ab.

Trotz schwieriger Zeiten existiert die Firma bis heute. Was haben die Entscheidungsträger anders gemacht als andere?
Sie hatten über eine lange Dauer den längsten Atem. Das hängt auch damit zusammen, dass die Firma mit der Familie einen relativ geduldigen Kapitalgeber hatte. Sie glaubte immer wieder daran, dass es weitergeht. Und es war bald genügend Substanz da, um Krisenphasen durchzustehen.

Kürzlich wurde ein weiteres Buchprojekt lanciert, das sich mit der Wechselwirkung Fabrik - Dorf beschäftigt.
Das begrüsse ich sehr. Mit meinem Beitrag ist die Geschichte der Chemischen Fabrik längst nicht zu Ende erzählt. Ich habe mich für die «Pioniere»-Buchreihe auf die Geschichte aus der Perspektive der Entscheidungsträger fokussiert. Selbstverständlich spreche ich auch Angelegenheiten der Arbeiterschaft an. Aber in diesem Feld liegt beispielsweise noch viel Potenzial brach.

Was ist ungewöhnlich an der Geschichte der Chemischen ­Fabrik Uetikon?
Einerseits ist das schiere Alter von 200 Jahren für eine Firma ziemlich bemerkenswert, andererseits die Familienkontinuität. Sieben Generationen, das ist wirklich ein Ausnahmefall. Denn trotz Umbau der Firma zu einer Holding mit Aktivitäten in den Bereichen Chemie, Papier und Verpackung (CPH) hat die engere Familie immer noch die Aktienmehrheit und stellt den Verwaltungsratspräsidenten.

Vor zehn Jahren wurden noch 40 Prozent des Schweizer Marktes von der heimischen Chemie bedient. Heute sind es noch neun Prozent.

Impressum



Teil 1 (Anfänge): Michel Wenzler


Teil 2 (Produktion): Armin Pfenninger


Teil 3 (Betriebseisenbahn): Tobias Humm


Teil 4 (Gründerfamilie): Regula Lienin


Teil 5 (Wirtschaftshistoriker): Regula Lienin


Teil 6 (Abschiedsfest): Ueli Zoss


Umsetzung: Paul Steffen

© Tamedia