Die Eidgenossenschaft ist global

Die Schweizer Auswanderung ist ein wesentlicher Teil der Geschichte der Schweiz. Und sie ist eine Geschichte von Enttäuschungen und Errungenschaften.

Das Radio als Verbindung zur Heimat – Auslandschweizer in Indien (1953). Foto: ASO-Archiv

Das Radio als Verbindung zur Heimat – Auslandschweizer in Indien (1953). Foto: ASO-Archiv

Wer «Einwanderer» oder «Auswanderer» hört, denkt an Angehörige fremder Völker, kaum jedoch an Schweizer. Dabei sind wir eine der wanderfreudigsten Nationen weit und breit. Auf acht Inlandschweizer kommt ein Auslandschweizer.

Noch weniger im öffentlichen Bewusstsein ist es, dass die über 760'000 registrierten Schweizer Bürger im Ausland gut organisiert und vernetzt sind. Und das nicht erst seit gestern. Ihre Dachorganisation wird in diesem Jahr hundertjährig. Zu diesem Anlass ist die Geschichte der Auslandschweizer-Organisation (ASO) aufgearbeitet worden. Es ist zugleich die Geschichte des Umgangs der Schweiz mit ihrer Diaspora. Sie zeigt ein buntes Puzzle aus Erfolgen und Enttäuschungen, Errungenschaften und Versäumnissen.

Ruf zu den Fahnen

Aufbruchstimmung prägte den Beginn des vorigen, 20. Jahrhunderts. Es ist ein Zeitalter der Innovationen, des Wirtschaftsaufschwungs und der internationalen Freizügigkeit. Schweizer Unternehmen, Infrastrukturprojekte, Hochschulen ziehen ausländische Fachkräfte an. Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer lassen sich im Ausland nieder. Vorübergehend als Studierende oder dauerhaft als Vertreter schweizerischer Unternehmen, Wissenschaftler, Erzieherinnen, Landwirte, Unternehmer. 400'000 Schweizerbürger leben 1914 ausserhalb der Landesgrenzen – ein Zehntel des Schweizervolkes.

Der Erste Weltkrieg setzt der internationalen Freizügigkeit ein Ende. Mehr als 20'000 wehrfähige Auslandschweizer werden unter die Fahnen gerufen. Viele Landsleute suchen in der Heimat Schutz. Nach der Oktoberrevolution kommen mehrere Tausend zuvor wohlhabende Russlandschweizer verarmt in der Schweiz an.

Von Rudolf Wyder

Landmaschine auf einer Schweizer Farm in Argentinien auf einer undatierten Aufnahme. Foto: ASO-Archiv

Landmaschine auf einer Schweizer Farm in Argentinien auf einer undatierten Aufnahme. Foto: ASO-Archiv

Auslandschweizer als patriotische Vorbilder

Die 1914 aus Sorge um den eidgenössischen Zusammenhalt gegründete Neue Helvetische Gesellschaft (NHG) wendet sich von Anfang an auch an die Landsleute jenseits der Landesgrenzen. Sie sollen in ihrem Patriotismus bestärkt werden. Rasch zeigt sich, dass diese keiner Lektionen in Patriotismus bedürfen. Vielmehr werden die Auslandschweizer der Nation fortan als patriotische Vorbilder empfohlen.

In London wird 1916 die erste Auslandgruppe der NHG gegründet. Im Rückblick gilt dies als die Grundsteinlegung zur weltumspannenden ASO. 1917 nimmt die Auslandschweizer-Kommission der NHG ihre Arbeit auf, ein fünfköpfiger Ausschuss unter der Leitung des konservativen Genfer Intellektuellen Gonzague de Reynold. 1919 wird in Genf ein permanentes Auslandschweizer-Sekretariat eingerichtet.

Information der Landesabwesenden, Auskünfte, kleine Handreichungen sind die ersten Aufgaben des Ein-Mann-Sekretariats. Nach Kriegsende explodiert die Nachfrage: Auswanderungswillige suchen Beratung, mittellose Rückkehrer – Flüchtlinge im eigenen Land – brauchen Hilfe. Schweizer Bürger, die im Krieg Hab und Gut verloren haben, fordern Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Entschädigung. Die junge ASO wird zur Fürsprecherin der Geschädigten. Während Jahren versucht die Schweizer Diplomatie vergeblich, Entschädigungsleistungen der früheren Wohnländer der Geschädigten zu erwirken.

Aber weshalb sollten verwüstete, verarmte Länder Staatsangehörige der wohlhabenden, neutral gebliebenen Schweiz entschädigen? 1934 trägt der Bundesrat, von National- und Ständerat dazu gezwungen, die Kriegsschäden-Frage vor den Völkerbund. Erwartungsgemäss blitzt er damit ab. Die Schweiz erleidet eine ihrer schwersten diplomatischen Niederlagen.

Bundesfeier der Schweizer Gemeinschaft in Köln (1938). Foto: ASO-Archiv.

Bundesfeier der Schweizer Gemeinschaft in Köln (1938). Foto: ASO-Archiv.

Auslandschweizer als Faschisten

Zur Bewährungsprobe wird für die ASO die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Faschismus. 1934 wird in Mailand ein «Fascio svizzero», eine schweizerische faschistische Gruppierung, gegründet. Ihr schliessen sich rund 200 Personen an. Die ASO nimmt sogleich unzweideutig gegen die Dissidenz Stellung. Sie schickt Referenten aus, die in den Schweizer Klubs zu Einigkeit und politischer Neutralität aufrufen.

Dasselbe in Deutschland. Ab 1933 entsendet die ASO Referenten in die Schweizer Klubs und ruft Abtrünnige scharf zur Ordnung. Im Krieg verschärft sich die ideologische Auseinandersetzung. Schweizer gründen in mehreren deutschen Städten nationalsozialistische Vereinigungen mit mehreren Tausend Mitgliedern. Sie streben den Anschluss der Schweiz an das Dritte Reich an und werden von den deutschen Machthabern gefördert.


In der Geistigen Landesverteidigung jenseits der Landesgrenze sieht die ASO ihre vornehmste Aufgabe. Die Leiter des Sekretariats absolvieren Dutzende von Vortragsreisen, Alice Briod im Westen und im Süden, Gerhart Schürch im Norden und im Osten. Schweizertum heisse, «nicht in erster Linie blut- und erdhafter Triebmensch zu sein, sondern in erster Linie Mensch mit dem Bewusstsein des Wertes freier Persönlichkeit und dem Willen zur Gemeinschaft über Rassen-, Sprach- und Konfessionsschranken hinweg», erklärt Schürch den Deutschlandschweizern. Nach Kriegsausbruch gehört er als Generalstabsoffizier der 1940 aufgedeckten «Offiziersverschwörung» für unbedingten Widerstand an.


Rudolf Wyder ist 1948 in Bern geboren. Er studierte Zeitgeschichte und Völkerrecht. Seine Dissertation schrieb er zum Thema «Die Schweiz und der Europarat». Von 1977 bis 1982 war er Generalsekretär der Europäischen Bewegung der Schweiz und danach in der PR-Branche tätig. Von 1987 bis 2013 wirkte Wyder als Direktor der Auslandschweizer-Organisation (ASO). Er lebt in Stettlen bei Bern. Zum 100-Jahr-Jubiläum der ASO hat Rudolf Wyder soeben ein Buch veröffentlicht: «Globale Schweiz. Die Entdeckung der Auslandschweizer» (Stämpfli-Verlag, Bern).

Gegen Hitlers Propaganda

In den Dreissigerjahren wird die ASO zur Informationsdrehscheibe. Ihre Monatszeitschrift «Schweizer Echo» springt in die Lücke, nachdem die Hitler-Regierung 1934 grosse Schweizer Zeitungen wie die NZZ, den «Bund» und die «Basler Nachrichten» verboten hat. Mit Radiochroniken, die über die Sender Beromünster und Sottens ausgestrahlt werden, wendet sich die ASO regelmässig an die Schweizer im Ausland.

Zusammen mit Behörden und Hilfswerken organisiert sie im Zweiten Weltkrieg Aktionen für notleidende Landsleute in den Kriegsgebieten. Sie berät und unterstützt Rückkehrer, die wiederum zu Tausenden in die Schweiz strömen. Sie wird zur respektierten Partnerin der Behörden.

Die von Auslandschweizern erlittenen Kriegsschäden beschäftigen die ASO und die Politik nach 1945 erneut. Man rechnet mit 25'000 Geschädigten und Verlusten von 2,5 Milliarden Franken. Die Betroffenen wollen nicht Almosen, sondern Entschädigung. Bedingungslose Unterstützung bekommen sie vom wortgewaltigen Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler und seinem Landesring der Unabhängigen. Die ASO setzt sich für die von Bundesrat und Parlament ausgearbeitete Kompromissvorlage ein. Vergeblich. Gegen das 121-Millionen-Hilfspaket ergreifen von «Dutti» unterstützte Rückwandererverbände das Referendum. 1954 erleidet die Vorlage an der Urne Schiffbruch.

Erst zwölf Jahre nach Kriegsende, 1957, kann eine neue Hilfsvorlage endlich unter Dach und Fach gebracht werden. Im neuerlichen Ringen um Kriegsschäden hat sich die ASO definitiv als eigenständige politische Akteurin etabliert.

Ein Quantensprung

In den Kriegsschäden-Kontroversen reift die Einsicht, dass die Rechtsstellung der Auslandschweizer der Klärung bedarf. 1966 stimmen Volk und Stände der Ergänzung der Bundesverfassung um einen Auslandschweizer-Artikel zu. Er gibt dem Bund die Kompetenz und damit den Auftrag, die Beziehungen der Auslandschweizer unter sich und zur Schweiz zu fördern und ihrer besonderen Situation in der Gesetzgebung Rechnung zu tragen. Ein auslandschweizerpolitischer Quantensprung!

Schweizer Haus Helvéczia in Ungarn. Foto: ASO-Archiv

Schweizer Haus Helvéczia in Ungarn. Foto: ASO-Archiv

Weitere epochale Durchbrüche sind seither hinzugekommen: 1992 erhalten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer das briefliche Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene. Und 2015 tritt das Bundesgesetz über Schweizer Personen und Institutionen im Ausland in Kraft. Es fasst Rechte und Pflichten der Auslandbürger zusammen und soll die Grundlage für eine kohärente Auslandschweizerpolitik bilden.

Begonnen hat die ASO als bescheidener Seitenzweig einer staatsbürgerlichen Gesellschaft. Entwickelt hat sie sich über ein Jahrhundert zur Interessenorganisation, die informiert und vernetzt, Dienstleistungen anbietet und die Interessen der mobilen Schweizerinnen und Schweizer wahrnimmt.

Aus einem Organ für Auslandschweizer ist die Organisation der Auslandschweizer geworden. Ihr Herz ist der Auslandschweizerrat. Er vereinigt 120 Delegierte der rund 750 Schweizer Klubs auf der ganzen Welt. Dazu kommen 20 Inlandmitglieder als Bindeglieder zu Politik, Gesellschaft und Institutionen. Als Delegiertenversammlung vertritt der Rat die Gesamtheit der schweizerischen Diaspora.

Typisch für eine Milizorganisation: Es sind stets einzelne Persönlichkeiten, welche die Tätigkeit der ASO prägen. Bemerkenswert ist, dass sie das gesamte politische Spektrum repräsentieren. Gemeinsam ist ihnen das Engagement für die Sache der mobilen Schweizerinnen und Schweizer und damit für die Vernetzung der Schweiz mit der Welt.

Solothurn liegt neben Singapur

Die Mission der ASO ist über ein Jahrhundert konstant geblieben. Themen und Aktionsformen jedoch wandeln sich. Im Vordergrund stehen heute E-Voting, konsularische Betreuung, Sozial- und Krankenversicherung, Bankverbindungen, generell die internationale Freizügigkeit für Schweizerinnen und Schweizer. Grundlegend haben sich die Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten verändert. Distanzen sind praktisch irrelevant geworden. Singapur ist Solothurns Nachbar, zwischen Bern und New Berne (North Carolina) liegt nur eine sechsstündige Zeitverschiebung. Über die von der ASO geschaffene Plattform SwissCommunity kommunizieren Auslandschweizer weltweit untereinander und mit der Schweiz.

Unsere Bevölkerung wird immer mobiler. Wer vor 100 Jahren auswanderte, war weg, meist für immer. Heute herrscht stetes Kommen und Gehen. 30'000 Schweizerinnen und Schweizer verlassen alljährlich das Land, und fast gleich viele kehren zurück. In grosser Zahl besuchen Auslandschweizer die Heimat. Internationale Mobilität hat die Auswanderung abgelöst. Der Unterschied zwischen Inland- und Auslandschweizern verwischt sich. Die Schweiz ist global.

Mussten die Väter der ASO um Aufmerksamkeit und Anerkennung kämpfen, ist heute die «fünfte Schweiz» ein politischer Faktor. Rund 150'000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sind in ein schweizerisches Stimmregister eingetragen. Die Parteien buhlen um dieses politische Potenzial, die Behörden haben Respekt davor.

Impressum

Idee und Konzept: Sandro Benini, Vincenzo Capodici
Texte: Sandro Benini, Vincenzo Capodici, Rudolf Wyder, Felix Maise
Fotos und Video: Raisa Durandi, Sabina Bobst, Keystone, Auslandschweizer-Organisation
Interaktive Grafik: Marc Fehr
Produktion: Vincenzo Capodici
Projektleitung: Dinja Plattner

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