Sie rennen los, mitten durch die Buschsavanne, vorbei an Büschen und Akazien, quer durch ein ausgetrocknetes Flussbett. Mal schneller, mal langsamer. Dann wieder schleichen sie. Und sie sind bewaffnet. Pfeil, Bogen und Gift haben sie dabei, sodass sie auch einen Löwen, einen Büffel, ein Zebra oder einen Pavian töten könnten. Sie haben Hunger. Und Appetit auf saftiges Fleisch oder etwas Süsses.
Begleitet von acht Hunden streifen die vier jungen Männer an diesem Morgen im Juni durch die Wildnis, wo es weit und breit keine Strassen, Wege oder Häuser mehr gibt. Geschweige denn Elektrizität oder fliessendes Wasser. Sie gehören zu den im Norden Tansanias lebenden Hadzabe, einer ethnischen Minderheit mit ungefähr 1000 Angehörigen, die verstreut in kleinen Gruppen irgendwo mitten im Busch in der Nähe des Lake Eyasi in einem rund 180 Quadratkilometer grossen Gebiet leben.
Barbara Reye
Redaktorin Wissen
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Leckerer Honig, nahrhafte Larven
Bei einem alten und löchrigen Baobab bleibt einer der Männer stehen, die anderen folgen seinem Beispiel. Im Nu entfachen sie durch geschicktes Drehen eines Holzstabs und mit brennbarem Material ein Feuer. Dann klettert der Zweitgrösste von ihnen zehn Meter hoch auf den Baum zu einem Bienennest, das er ausräuchert. «Bloss, weg hier», ruft Samuel Shed, der lokale Guide, der die Sprache der Hadzabe mit den archaischen Klicklauten versteht. Es seien Killerbienen. Schnell rennen – und gegen den Wind.
Tatsächlich sind alle vier Männer überall gestochen worden und ziehen sich nun gegenseitig die Stachel heraus. Dennoch strahlen sie und lachen. Denn sie haben, was sie wollen – die Waben. Gefüllt mit leckerem Honig und proteinreichen Larven. Vor Ort essen sie die Beute auf. Danach geht es weiter. «Cuk-crrrr-cuk cuk-crrrr-cuk», ruft ein Vogel. Einer der Jäger pirscht sich vorsichtig an einen Busch heran und kommt kurz darauf mit einer der häufig vorkommenden Kapturteltauben zurück. Er steckt sie am Gürtel fest. Für später.
Die anderen Jäger erlegen eine Maus und zwei weitere Vögel. Nach gut eineinhalb Stunden machen sie erneut ein Feuer. Hier draussen, im Hadzabe-Land, isst jeder von der Hand in den Mund. Im Gegensatz zu der ebenfalls dort lebenden Bevölkerungsgruppe der Datoga, die in Lehmhütten wohnen und Ziegen sowie Rinder halten. Die Hadzabe-Männer erlegen die Wildtiere zum Teil auch mit Gift, das sie aus der Rinde des Acokanthera-Baums gewinnen und auf die Pfeilspitzen schmieren. Die Frauen gehen nicht auf die Jagd. Sie sammeln Beeren und graben Wurzeln aus.
Weil ihre Lebensweise der unserer Urahnen vor 10'000 bis 15'000 Jahren ähnelt, als es noch keine Viehzucht und keinen Ackerbau gab, interessieren sich viele Forscher dafür. Denn der Beginn der Landwirtschaft stellte die Ernährung radikal um. Dadurch veränderte sich auch die Darmflora, die uns unter anderem bei der Aufnahme von Nährstoffen hilft und für viele verschiedene Aspekte der Gesundheit verantwortlich ist.
Um dies zu untersuchen, besuchten die Wissenschaftler die letzten Wildbeuter in Ostafrika und sammelten diverse Proben ein. Dabei zeigte sich in einer Studie aus dem Jahr 2014, dass die Hadzabe im Vergleich zu Italienern eine wesentlich vielfältigere Darmflora besitzen. Und 2017 berichtete der Mikrobiologe Justin Sonnenburg von der Stanford University in «Science», dass die saisonale Nahrungsaufnahme der Hadzabe sich auch in der Zusammensetzung der Darmbakterien spiegle. Dies liege unter anderem daran, dass sie in der Trockenzeit mehr Wild jagten. Kurzum: Der improvisierte Speisezettel der Savanne ist abwechslungsreicher als unsere häufig monotone Ernährung.
Die vier Männer sitzen nun um das Feuer. Zuerst essen sie die Vitamin-C-reichen Früchte eines Baobabs und pulen das Fruchtfleisch aus der Schale. Inzwischen lodern die Flammen. Rauch steigt auf. Nun schneiden sie einen Vogel in zwei Hälften und rupfen die Federn ab. Kurz darauf trieft das Fett aus dem Fleisch. Genüsslich beissen sie in ihren Braten. Alles wird brüderlich geteilt. Viel wird dabei erzählt, viel gelacht.
Die Hadzabe besitzen im Vergleich zu Italienern eine wesentlich vielfältigere Darmflora.
Achtung, eine Schwarze Mamba!
«Sie reden darüber, was sie wo gejagt haben – etwa den Pavian oder einen bestimmten Vogel», sagt Shed. Ein Hadzabe lebe in den Tag hinein, habe keine Pläne für die Zukunft, keine Verabredung und keinen Stress. Doch niemand wisse, ob ihre Kultur auch in ein paar Jahren noch so sei. Denn mittlerweile gebe es auch ein paar Hadzabe mit Handy. Der Druck von aussen sei gross. Doch ihr Widerstand und Stolz auch. So hätte ein Missionar eine Krankenstation für sie in Qangdend gebaut und kostenlose Behandlung angeboten. Benutzen würden sie sie aber nicht, da sie auf ihre eigene Medizin mehr vertrauten.
Niemand wisse, ob ihre Kultur auch in ein paar Jahren noch so sei.
Die vier Jäger pfeifen ihre Hunde zusammen. Sie haben erst einmal genug gejagt. Vielleicht gehen sie später nochmals los. Auf dem Rückweg schneiden sie noch ein paar Zweige für neue Pfeile ab, die sie danach schnitzen und mit Pfeilspitzen sowie Gift versehen. «Die Hadzabe sind sehr genügsam», sagt Shed. «Sie jagen und sammeln nur das, was sie zum Überleben brauchen. Sie verschwenden nichts und sind eins mit der Natur.» Doch sie müssen in dieser garstigen Umgebung auch ständig auf der Hut sein. So bewegt sich ein paar Kilometer vom Camp entfernt eine Schwarze Mamba: Die längste Giftschlange Afrikas scheint das Territorium verteidigen zu wollen. Sie stellt ihren Kopf zum Angriff auf, verschwindet dann aber zum Glück im Busch.