«Es geht um die Seele unseres Landes»

Valerie Wilson Wesley rechnet mit dem Schlimmsten.

«Meinem Enkel wird weniger zugetraut als anderen Kindern.»

Die Krimi-Autorin in ihrem Garten in Upper Montclair.

Die Krimi-Autorin in ihrem Garten in Upper Montclair.

«Familie gibt Halt, aber das Problem der Hautfarbe bleibt.»

Fotos: Cédric von Niederhäusern

Fotos: Cédric von Niederhäusern

Mit Valerie Wilson Wesley
sprach Christof Münger

Montclair, New Jersey

Der Rasen ist überall gemäht an der Upper Montclair Avenue, die Bäume sind hoch und die Häuser dahinter gepflegt. Nicht steril oder protzig, wie man es aus den neuen amerikanischen Vorstädten kennt, sondern unaufgeregt und alteingesessen. Filmregisseur Steven Spielberg und Mondfahrer Buzz Aldrin haben hier ein Haus, auch «Kojak» Telly Savalas wohnte in der Gegend, sein Einsatzgebiet Manhattan ist mit der S-Bahn New Jersey-Transit in einer halben Stunde erreichbar.

Wir sind unterwegs zu Valerie Wilson Wesley (68), Krimi-Autorin und Erfinderin von Tamara Hayle, der ersten schwarzen Privatdetektivin in der US-Literatur. Die sympathische Ermittlerin arbeitet allerdings nicht hier im beschaulichen Montclair, sondern im nahen Newark. Das ist die grösste Stadt New Jerseys, die Europäer kennen sie vom Namen her wegen des gleichnamigen Flughafens. Valerie Wilson Wesley ist selber Afroamerikanerin. Ihr Mann Richard Wesley schreibt Drehbücher und Theaterstücke.

Ob es sich bei Upper Montclair eher um ein weisses oder ein schwarzes Quartier handelt, wissen wir nicht, niemand ist auf der Strasse zu sehen. Alles ruhig. Neben Valerie Wilson Wesleys Haustür steht ein Kindervelo. «Das gehört meinem 9-jährigen Enkel, dem Sohn meiner älteren Tochter», sagt sie, als sie öffnet. Der Knabe wohne mit seiner Mutter ebenfalls hier. «Sonst hätten wir dieses grosse Haus längst verkauft.» Valerie Wilson Wesley freut sich über das mitgebrachte Schweizer Sackmesser, das Tamara Hayle jeweils bei sich trägt, wenn sie verdeckt ermittelt. «Endlich das Original», lacht die Autorin und setzt sich fürs Interview in einen Schaukelstuhl.

Amerika im Gespräch (2)
Mit den TV-Debatten tritt der Kampf ums Weisse Haus in die entscheidende Phase. Wir reden mit drei US-Autoren. Ihr Blick auf Amerika ist so widersprüchlich wie das Land selbst.

«Alles hängt davon ab, was man hat.»

«Arme haben keine Macht.»

«Sie stehen unter Druck, das löst eine Reaktion aus.»

Immer wieder werden junge Afroamerikaner getötet, wenn sie mit der Polizei in Berührung kommen, zuletzt Keith Lamont Scott in Charlotte, Alton Sterling in Baton Rouge oder Philando Castile in Minneapolis. Sind die USA rassistischer geworden?
Nein, das waren sie schon immer. Der Unterschied ist, dass die Jugendlichen heute Kameras dabei haben. Wir haben die Polizei immer gefürchtet. Als Kind hatte ich Albträume, dass meinem Vater etwas zustösst. Und ich weiss noch, wie Angst in seine Augen kam, als er einmal von der Polizei kontrolliert wurde. Man weiss nie, ob es ein guter oder ein schlechter Polizist ist. Dazu kommt, dass unglaublich viele Waffen im Umlauf sind. Trayvon Martin wurde in Florida nicht von der Polizei getötet, sondern von einem Zivilisten. Wenn jemand – aus welchen Gründen auch immer – Schwarze oder Latinos nicht mag, sind diese vielen Waffen die Zutaten für ein Desaster.

Helfen die Kameras, weitere Desaster zu verhindern?
Zumindest kann nun jeder sehen, was passiert. Früher behauptete man, die Polizei behandle die Leute in armen Gegenden gleich wie alle anderen. Das ist vorbei. Vor 23 Jahren gab meine ältere Tochter, sie war damals 19, hier zu Hause eine Party. Mein Mann und ich waren am anderen Ende der Stadt eingeladen. Es war eine Party von schwarzen Jugendlichen. Unser Quartier ist mehrheitlich weiss und nicht arm, die Stadt ist liberal, wir fühlten uns sicher und beschützt. Bis zu jenem Abend, als die Polizei kam und zuschlug.

Weshalb?
Ich weiss es bis heute nicht. Von unseren weissen Nachbarn wollte jedenfalls niemand die Polizei gerufen haben. Als mein Mann und ich heimkamen, herrschte Chaos, der Teppich war mit Blut verschmiert, die Möbel umgedreht, als ob die Polizei etwas gesucht hätte. Aber sie fanden nichts, keine Drogen, nicht mal Schnaps. Mehrere Jugendliche wurden verhaftet, auch meine Tochter, die sich den Polizisten tapfer entgegengestellt hatte. Es war ein Wunder, dass niemand erschossen wurde.

Waren die Polizisten weiss?
Es hatte auch einen oder zwei Schwarze dabei. Aber die Polizei ist ohnehin nicht schwarz oder weiss, sondern blau. Ich berichtete über den Vorfall im «Essence»-Magazin (eine Frauenzeitschrift, die sich an Afroamerikanerinnen richtet, die Red.) und vor zwei Jahren in meinem Blog. So wurde die Sache bekannt. Heute würde alles gefilmt. Ich selbst fühlte mich damals nicht mehr sicher in unserem Quartier, und wenn ich einen Polizisten sah, hatte ich Angst. Ich befürchtete, dass die Polizei uns Drogen unterjubelt, um nachträglich den Einsatz zu rechtfertigen.

Wie hat diese Erfahrung Ihre Tochter geprägt?
Ihr Verhältnis zur Polizei ist seither gestört, sie ist immer noch wütend. Meine beiden Töchter gewöhnten sich daran, dass sie anders behandelt werden, weil sie schwarz sind. Als sie aufs College gingen, wurden sie immer wieder von der Polizei angehalten, jedoch stets laufen gelassen, weil sie Mädchen waren. Einmal jedoch durchsuchten die Polizisten nicht die Jungs, sondern meine Töchter nach Waffen und Drogen. Und wie sie die Mädchen anfassten ­– das war ein sexueller Übergriff. Den Polizisten ging es nur darum, die Jungs, die dabei waren, zu provozieren. Deshalb mache ich mir Sorgen wegen meines kleinen Enkels.

Hat er auch schon Bekanntschaft mit der Polizei gemacht?
Nicht direkt. Aber vor etwa einem Jahr spielte er mit einem Buben aus dem Quartier vor unserem Haus. Dieser Knabe hatte eine Spielzeugpistole dabei. Das war kurz nachdem ein Bub in Cleveland von der Polizei erschossen worden war, weil er eine solche Plastikpistole in der Hand hielt. Als mein Mann unseren Enkel mit der Spielzeugpistole sah, rannte er wie ein Furie aus dem Haus und entriss sie ihm.

«Die Polizei ist nicht schwarz oder weiss, sondern blau.»

«Obama hat allen schwarzen Kindern ein Vermächtnis hinterlassen», sagt Valerie Wilson Wesley.

Die Heldin Ihrer Krimis ist Privatdetektivin Tamara Hayle, eine Art Alter Ego von Ihnen. Sind die Tamara-Hayle-Krimis politisch?
Es geht mir mehr um die Familie. Der neue Hayle-Krimi, an dem ich derzeit arbeite, ist etwas politischer, weil darin ein Schwarzer von Polizisten erschossen wird. Ich werde ja auch beeinflusst von dem, was ich in den News sehe. Aber es geht vor allem um die schwarzen Frauen, die sich verletzlich fühlen wegen ihrer Söhne und Brüder. Sie wissen nie, was passieren wird.

Als alleinerziehende Mutter lebt Hayle in permanenter Angst, dass ihr halbwüchsiger Sohn getötet wird. Begleitet diese Angst jede schwarze Familie?
Inzwischen ja. Nicht nur wegen der Polizisten, sondern auch wegen der Gangs, Drogen und vielen Waffen. In diesem Land sind schwarze und vor allem arme Kinder weit verletzlicher als andere.

In «Off-Road-Kids» sagt Hayles Sohn: «Ich bin schwarz, jung und ein Mann, Fremde wollen ohnehin nicht mit mir sprechen.» Leiden die Afroamerikaner an einem Minderwertigkeitskomplex, der das Problem noch verschlimmert?
Alles hängt davon ab, was man hat. Arme haben keine Macht. Sie stehen ständig unter Druck, das löst eine Reaktion aus. So wie kürzlich in Milwaukee, wo der Tod eines Afroamerikaners zu schweren Unruhen führte. Keine andere Stadt ist so stark segregiert. Halt geben kann eine starke Familie, aber das Problem der Hautfarbe bleibt. Als ich ein Kind war, durften wir nicht einmal ins Restaurant.

Aber Ihr Vater war doch ein US-Offizier.
Und was für einer! Er war ein hochdekorierter Oberst der Luftwaffe. Er gehörte zu den berühmten Tuskegee Airmen, den ersten schwarzen US-Militärpiloten, und kämpfte im Zweiten Weltkrieg. Trotzdem wurde er nach seiner Rückkehr in die USA diskriminiert. Er war also im Krieg für sein Land, aber seine Kinder mussten in eine nach Hautfarbe getrennte Schule. So wurden wir Teil der schwarzen Gemeinschaft, und darüber schreibe ich.

«Das Problem der Hautfarbe bleibt.»

Bewegten Sie sich als Kind nur unter Schwarzen?
Meistens. Unsere Eltern veranstalteten jeweils am Sonntag ein grosses Picknick, damit wir Kinder nicht die Demütigung einer Abweisung vor dem Restaurant erleben mussten. Eltern versuchen, ihre Kinder zu schützen vor dem Rassismus. So kann man aufwachsen, ohne je Weisse zu sehen, womit das Problem ausgeklammert wird. Es gibt ein Gedicht von Lucille Clifton, eine grossartige Dichterin, das unser Lebensgefühl gut beschreibt (holt das Buch und liest vor).

Hört Kinder
Hebt euch das auf
Für immer
Wie auch immer
Und tragt es immer bei euch
Wir haben Schwarz nie gehasst
Hört
Wir haben uns geschämt
Hoffnungslos, müde, wütend
Aber immer
Wie auch immer
Liebten wir uns
Wir haben uns immer geliebt
Wie auch immer, Kinder
Sagt es weiter.


Sagen Sie es Ihrem Enkel weiter?
Ich arbeite an einem Kinderbuch über die afroamerikanische Geschichte. Ich versuche den Kindern eine Idee davon zu geben, was uns widerfahren ist. Mein Enkel soll verstehen, dass es Gründe gibt, weshalb die Polizei Schwarze erschiesst. Um zu verstehen, wer man ist, muss man die Geschichte kennen. Es ist hart, über die Sklaverei zu schreiben, aber es ist wichtig.


Wilson Wesley liest ein Gedicht von Lucille Clifton.

Hat sich Ihr Leben als Afroamerikanerin verbessert während der Obama-Jahre?
Ich war nie besonders benachteiligt oder arm, ich hatte immer eine Krankenkasse. Aber es ist wichtig, dass wir sehen, dass ein Afroamerikaner eine solche Machtposition einnehmen kann. Vor allem für meinen Enkel. Seit er denken kann, ist ein Afroamerikaner Präsident der USA – das war vor ein paar Jahren noch unvorstellbar. Das ist ein wichtiges Erbe von Obama und macht uns optimistisch. Und ich freue mich, wenn ich Obama sehe, wie er sich elegant, souverän und voller Selbstvertrauen auf der Weltbühne bewegt – das macht uns stolz. Amerika wird erst in 20 Jahren realisieren, was für ein Geschenk Obama dem Land gemacht hat.

Sie sagen, Sie seien nicht benachteiligt. Haben Sie auch nie Rassismus erlebt?
Doch, sicher. Jedes Mal, wenn ich einen Laden betrete, werde ich beobachtet. Jede schwarze Person in Amerika erlebt Rassismus. Selbst wenn Barack Obama oder seine Töchter die Strasse entlang gingen, würden sie gemustert. Und in den Schulen behandeln die Lehrer die schwarzen Buben anders, selbst hier in Montclair, das wohlhabend ist. Die Leistungen der schwarzen Kinder sind schlechter. Mich bedrückt, dass meinem Enkel weniger zugetraut wird als anderen Kindern.

Tragen die Afroamerikaner selber keine Schuld an dieser Situation?
Nein. Sie wurden seit jeher in irgendeiner Form diskriminiert. Der ganze wirtschaftliche Aufstieg der USA wäre nicht möglich gewesen ohne die Sklaverei. Meine Eltern erwähnten allerdings nie, dass sie diskriminiert wurden. Meine Grossmutter war eine ausgebildete Krankenschwester, was in den 1920-Jahren eine Riesensache war. Doch als sie nach New York kam, liess man sie nicht in einem Spital arbeiten. Damit lebt man, und die Diskriminierung wird Teil der eigenen Persönlichkeit. Das sagt auch dieses Gedicht. Wir sind, wer wir sind.

Trotzdem: Die meisten Verbrechen an Afroamerikanern verüben nicht weisse Polizisten, sondern Afroamerikaner. Weshalb?
Zum einen sind Waffen und Drogen zu einfach erhältlich. Dazu kommt, dass viele Familien zerbrechen. Und viele Männer haben keine festen Jobs. Eric Garner wurde in New York getötet, weil er Zigaretten verhökerte. Wenn er einen legalen Job gehabt hätte, wäre es nicht so weit gekommen. Und es kommt aufs Umfeld an. Die Schulen hier in Montclair sind besser als etwa jene in Camden, New Jersey. Unser Schulsystem ist richtig schlecht. Aber die Eltern machen, was sie können.

In Dallas und in Baton Rouge ist es zu Racheakten gekommen, Afroamerikaner töteten mehrere Polizisten. Was können die US-Behörden tun, damit die Lage nicht eskaliert?
Beide Täter waren vorher bei den Streitkräften, doch als sie aus dem Krieg zurückkamen mit dem posttraumatischen Stress-Syndrom, hat sich niemand um sie gekümmert. Und die Polizei muss endlich den Rassismus in ihren Reihen angehen.

«Obama hat Amerika ein Geschenk gemacht.»

«Worte können Trump nicht beschreiben.»

«Er ist ein Mann, der Kinder erschreckt.»

«Und er ist ein Rassist. Ein Affront für die USA.»

Ihre Figur Tamara Hayle ist eine ehemalige Polizistin. Sie sagt, die meisten Cops seien nette Kerle.
Es gibt viele gute Polizisten, wir brauchen ja Polizisten. Sie sollten aber dort wohnen, wo sie arbeiten, dann erfahren sie, was läuft. Nur so können tragische Zwischenfälle wie jener mit dem Bub in Cleveland verhindert werden. Die meisten Cops leben jedoch weit weg in den Suburbs und fahren nur zum Dienst in die armen Gegenden.

Heute ist oft die Rede von den «wütenden weissen Männern». Sie jubeln Donald Trump zu und können es nicht ausstehen, dass Afro-Amerikaner in die Mittelklasse aufsteigen. Ist das der Preis für den ersten schwarzen Präsidenten?
Ja, das kam mit Obama. Es gibt eine Gruppe von Weissen, denen es nicht gut geht, und das Land hat sich nie um sie gekümmert. In den USA herrscht eine steile gesellschaftliche Hierarchie, die Hautfarbe ist nur eines der Kriterien. Aber die Tür zum Aufstieg ist dennoch offen. Wenn man fair behandelt wird, hart arbeitet und Glück hat, erhält man vielleicht eine Chance. Deshalb gibt es Aufsteiger wie Michelle und Barack Obama. Aber das weckt Neid.

Lässt sich damit der Erfolg von Donald Trump erklären?
Er hat viele Emotionen entfesselt, die sich in den Obama-Jahren angestaut haben. Die Ressentiments gegenüber einem Schwarzen im Weissen Haus bestehen seit Obamas Amtsantritt. Nun hat dieser Hass auf uns ein Sprachrohr erhalten, Trump ist dieses Sprachrohr. Für die Schwarzen und die Latinos war Obamas Wahl eine Freude, für viele andere nicht. Und die können nun dank Trump vom Leder ziehen.

Ist Donald Trump ein Rassist?
Worte können nicht beschreiben, was er ist und was er tut. Er ist ein Mann, der Kinder erschreckt, mein Enkel und seine Freunde fürchten ihn. Und ja, er ist ein Rassist: Er war angeklagt wegen Diskriminierung. Dann stellte er infrage, dass Obama in den USA geboren wurde und ein rechtmässiger Präsident ist – kompletter Unsinn! Dazu kommen seine Anti-Muslim-Rhetorik und seine Angriffe auf die Mexikaner. Trump ist ein Affront für die USA.

Kommt es zum Krieg auf den amerikanischen Strassen, wenn er gewählt wird?
Ich weiss nicht, was passieren würde. Aber wir Schwarzen haben schon Schlimmeres erlebt. Wir können Donald Trump überleben. Wer die Sklaverei und die Rassentrennung überlebt hat, überlebt auch Trump. Wer die Polizei überlebt, die einem die Kinder tötet, überlebt Trump.

Macht Trump nicht einfach Gebrauch von der Redefreiheit, die in der amerikanischen Verfassung verankert ist?
Ja, aber es gibt eine Grenze. Geht es nach Trump, muss man nicht mehr höflich sein, sondern darf und soll fies sein. Davon ist nicht die Rede in der Verfassung, er missbraucht sie. Trumps Sprache ist gewalttätig und führt zu Gewalt. Unser Land basiert auf Höflichkeit, auch wenn man unterschiedlicher Auffassung ist. In den USA leben viele verschiedene Menschen. Wenn die Leute gegenseitig nicht mehr die unterschiedlichen Identitäten respektieren, bleibt nichts anderes übrig als Donald Trump. Wenn er gewinnt, wird es schrecklich. Es braucht nicht viel, um das Land auseinanderzudividieren. Deshalb ist diese Wahl ein Kampf um die Seele unseres Landes.

Gibt es keine Afroamerikaner, die Trump unterstützen?
(lacht) Doch, ein Prozent. Und das sind Narren.

«Trumps Sprache führt zu Gewalt.»

Hillary Clinton, «Sister Hillary», ist bei Afroamerikanern populär. Weshalb?
Sie war an der Seite von Präsident Obama, und sie fuhr nach Charleston, als es dort in der Kirche ein Massaker gab. Frauen meines Alters unterstützen sie, weil sie eine Frau ist. Wenn Obama nicht gewesen wäre, hätte ich sie schon 2008 gewählt. Ich ziehe sie auch Bernie Sanders vor – im Gegensatz zu meiner Tochter.

Viele Amerikaner mögen Hillary Clinton nicht. Sie sagen, sie sei arrogant, vom Establishment und zu nahe bei der Wallstreet.
Sie ist eine Politikerin. Und ihre Nähe zur Wallstreet ist mir egal, wenn ich an Trump denke. Viele mögen Hillary nicht, weil sie eine starke Frau ist. Sie hat hart gekämpft und strahlt kaum Wärme aus. Ich respektiere sie aber, sie hat sich für die Bürgerrechte eingesetzt. Sie hat nicht das Charisma von Obama oder Joe Biden. Die Medien waren immer hart mit ihr, schon als Bill Gouverneur von Arkansas war. Ihre Kleider und ihre Frisuren wurden kritisiert. Doch sie blieb bei ihrem Ehemann nach dessen Torheiten. Es war nicht sie, die mit einer Praktikantin ein Verhältnis hatte, aber alle lieben Bill, nicht Hillary.

Angenommen, Hillary Clinton wird Präsidentin, wird die Gewalt zwischen Schwarz und Weiss abnehmen?
Zunächst: Verlassen Sie sich nicht darauf, dass Clinton gewinnt. Aber sie würde wohl mehr in die Ausbildung der Polizisten investieren. Und sie würde dafür sorgen, dass für Kleinkinder besser gesorgt wird. Auch die schwarzen Buben hätte sie im Auge.

Wird die amerikanische Geschichte mit Sklaverei, Rassentrennung und Rassismus je überwunden?
Solange die Amerikaner nicht verstehen, was wirklich passiert ist, glaube ich nicht. Viele wissen gar nicht, dass erst die Sklaverei aus den USA das machte, was sie heute sind. Es geht nicht nur um ein paar Plantagen. So waren viele Amerikaner erstaunt, als Michelle Obama exemplarisch publik machte, dass Sklaven das Weisse Haus gebaut hatten. Zum Glück sind nun einige grossartige Bücher dazu erschienen.

Welches würden Sie Hillary Clinton empfehlen, falls sie gewählt wird?
«The Half Has Never Been Told» des Historikers Edward Baptist. Er zeigt auf, wie die USA dank der Sklaverei zur Weltwirtschaftsmacht wurden.

Und welches Donald Trump?
(winkt ab) Er liest nicht.

Und für Barack Obama? Er hat bald viel Zeit, um zu lesen.
Er liest bereits jetzt viel, er hat alle Bücher, die ich gelesen habe, auch gelesen. Derzeit angeblich «The Underground Railroad», die eindrückliche Geschichte eines Sklavenmädchens in Georgia. Und Obama ist klug – ganz im Gegensatz zu Trump.

Zum Schluss die grosse Frage: Wer gewinnt die Wahlen am 8. November?
Tamara Hayle (lacht herzhaft). Nein, ich wünsche mir Hillary, sie wäre eine gute Präsidentin. Ich weiss nicht, was ich tun werde, wenn Trump gewinnt. Ich fürchte ihn. Er wäre das absolut Schlechteste, was diesem Land passieren könnte.

«Die Medien waren immer hart mit Clinton.»

«Alle lieben Bill, nicht Hillary.»

«Sie strahlt kaum Wärme aus.»

Tamara Hayle kommt zurück

Valerie Wilson Wesley arbeitet am neunten Fall ihrer Privatdetektivin. Über eine deutsche Übersetzung, wieder bei Diogenes, würde sie sich freuen.


Das letzte Kapitel fehlt noch, etwa zehn Seiten, dann hat Tamara Hayle ihren neunten Fall gelöst. Valerie Wilson Wesley freut sich auf das Comeback ihrer Ermittlerin, der achte und bisher letzte der Hayle-Krimis ist vor fast zehn Jahren erschienen. «Ich bin inzwischen Grossmutter geworden», sagt die 68-jährige Afroamerikanerin, «aber auch Tamara wurde älter». Deshalb habe sie sich beim Schreiben zunächst unsicher gefühlt, sagt die Autorin. «Aber mein Literaturagent meint, dass alles einleuchtet.»

Über den Inhalt will Wilson Wesley nur verraten, dass Tamaras Schwester auftaucht. Sie hatte die Familie verlassen, als die Detektivin noch ein Kind war. «Und Tamara weiss nicht recht, wie sie damit umgehen soll. Es geht darum, wie uns die Erinnerung täuscht und verwirrt.» Und natürlich müsse sie einen Fall lösen, sagt die Autorin. «Es macht Spass, die Welt wieder durch die Augen von Tamara Hayle zu sehen, die ich inzwischen recht gut kenne.»

Frauenbücher unter falschem Namen

In ihren Krimi-losen Jahren hat Wilson Wesley nicht aufgehört zu schreiben. Als ehemalige leitende Redaktorin von «Essence», einer Art «annabelle» für schwarze Frauen, beherrscht sie verschiedene Stile und Genres. Unter dem Pseudonym Savanna Wells schrieb sie zwei romantische Schauerromane. Aber weshalb der falsche Name? «Der Verleger beharrte darauf, weil es ganz andere Bücher waren, viel romantischer als die Krimis, eher Frauenbücher», sagt Wilson Wesley. Tamara Hayle liege ihr aber schon mehr am Herzen.

Die erste schwarze Privatdetektivin der US-Literatur hat zu Beginn der Reihe den Polizeidienst wegen Rassismus und Sexismus quittiert und den Vater ihres Sohnes verlassen. Als Alleinerziehende ist Tamara Hayle stets knapp bei Kasse, sie schlägt sich mit dubiosen Jobs durch und steht mitten im Leben von Newark, das einst als gefährlichste Stadt Amerikas galt. Ihre Ansichten über Schwarze und Weisse, Frauen und Männer, Sex und Drogen formuliert Hayle beiläufig, nicht als soziologische Thesen. Dabei erinnert sie an Philip Marlow von Raymond Chandler, dem weissen Übervater des Private-eye-Krimis.

Valerie Wilson Wesley schreibt Krimis, weil sie gerne Krimis liest, etwa von Walter Mosley oder von P.D. James, «eine meiner liebsten britischen Autorinnen». Es gehe ihr nicht in erster Linie darum, indirekt auf Missstände hinzuweisen. Zumal sich seit dem letzten Fall auch Newark stark verändert habe, und zwar zum Besseren: «Selbst dort gibt es inzwischen einen Starbucks.»

Verfilmung wäre kein Fall für Beyoncé

Werden die Tamara-Hayle-Krimis irgendwann verfilmt? «Es gab einige Angebote», berichtet die Autorin, «kürzlich eines von Lionsgate, einem kanadischen Medienunternehmen». Ihr ist wichtig, dass Tamara Hayle gut besetzt wird: «Die Schauspielerin sollte hübsch sein, aber nicht im klassisch europäischen Sinn wie Beyoncé, sondern hübsch, wie schwarze Frauen hübsch sind, die wir täglich auf der Strasse sehen.» Hayle müsse Integrität ausstrahlen und einen gewissen Stil haben. «Ich denke an Viola Davis oder Taraji Hicks.»

Zunächst aber muss Wilson Wesley einen Verleger finden für den neuen Hayle-Roman. «Es ist nicht einfacher geworden im Internet-Zeitalter.» Und sie würde sich freuen, wenn das neue Buch übersetzt würde. «Am liebsten bei Diogenes.» Der Zürcher Verlag hat bereits sieben Hayle-Krimis auf Deutsch herausgebracht, inzwischen sind sie allerdings vergriffen. «Ein wunderbarer Verlag», lässt sie in der Schweiz ausrichten.

Christof Münger

«Mein Agent meint, dass alles einleuchtet.»

  • Impressum
  • Idee, Konzept & Text:Christof Münger
  • Fotos & Video:Cédric von Niederhäusern
  • Bildredaktion:Koni Nordmann
  • Videoproduktion:Lea Koch, Veronika Ebner
  • Produktion:Raphael Diethelm
  • Projektleitung:Dinja Plattner
© Tamedia