Lieben ohne zu besitzen

Auf den Lebensentwurf der freien Liebe der 68er folgt die Polyamorie. Wie funktioniert das, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben?

Vermont, USA, 1970 / Foto: Keystone

Vermont, USA, 1970 / Foto: Keystone

Die Linken protestierten gegen die biederen Bürgerlichen, die Hippies feierten die freie Liebe und die Frauen erlebten ungeahnte Freiheiten mit der neuen Anti-Baby-Pille: Die 68er waren die Zeit der sexuellen Revolution. Die Ehe als einzig akzeptierte Beziehungsform hatte ausgedient, die neue Gesellschaft ebnete den Weg für alternative Beziehungsformen.

Eine davon ist die Polyamorie. Zwei, die das seit mehreren Jahren leben, sind die gebürtige Winterthurerin Barbara* (55 Jahre) und Marcel (53). Sie führen nicht nur eine Beziehung, sondern mehrere. Barbara hat neben Marcel noch eine Beziehung zu Pierre, der wiederum verheiratet ist. Und Marcel hat vor Kurzem Nina kennengelernt. Was im ersten Moment nach freier Liebe klingt, ist es nicht.

«Es geht nicht darum, mit jedem ins Bett zu steigen», erklärt Barbara, eine grosse, schlanke Frau mit selbstbewusstem Auftreten. Marcel, grau-meliertes Haar, sonnengebräunt, mit einem warmen Blick, nickt und ergänzt: «In der Polyamorie geht es um verbindliche Beziehungen.» Verkürzt gesagt bedeutet Polyamorie also: Liebe, wen du willst, aber halte dich an die Regeln. Wie funktioniert das? Mit drei Regeln, auf die Marcel und Barbara immer wieder zu sprechen kommen.

Regel 1: Offenheit ist Pflicht

Die erste und wichtigste Regel lautet Offenheit. Das bedeutet vor allem: Sich mitzuteilen und auszutauschen. «Wenn du eine Person kennenlernst und spürst, das ist mehr als nur Sympathie, dann erzählst du das», sagt Marcel. Das beginne schon beim Flirt, wo man den Namen des Gegenübers noch nicht wisse. Ähnlich war das, als Marcel vor Kurzem eine neue Frau traf: «Barbara und ich waren zusammen an einem Festival, sie ging früher, ich blieb noch und verbrachte mit der neuen Bekannten eine Nacht.», sagt Marcel.

«Er kam dann zu mir und hat mir davon erzählt», sagt Barbara. Wie sie reagiert habe? «Ich habe mich gefreut», sagt sie, blickt zu Marcel und ergänzt: «Das ist etwas Wesentliches in der Polyamorie: Dass man sich für das Gegenüber mitfreuen kann, auch wenn man selbst nicht dabei war.»

«Wenn du eine Person kennenlernst und spürst, das ist mehr als nur Sympathie, dann erzählst du das»

Regel 2: Eifersucht gehört dazu

Nicht immer ist es so einfach wie beim Beispiel von Nina. Eifersucht ist auch bei den «Polys», wie sie sich selbst nennen, ein grosses Thema. «Jeder kennt das Gefühl», sagt Barbara. Marcel hat es auch schon erlebt. Als Barbara ein Wochenende mit Pierre verbringen wollte, wurde ihm ganz unwohl. «Ich kann nicht mit Ungewissheit umgehen. Bei mir spielte ständig das Kopfkino ab, ich konnte es nicht aushalten», sagt Marcel.

Er wollte Barbara anrufen und mit ihr sprechen, sie fragen, was da läuft. «Aber alle rieten mir davon ab.» Er tat es trotzdem und war erleichtert, als Barbara ihn verstand. Sie erzählte ihm was sie vorhaben: «Wir gehen zusammen auf ein Konzert, danach kommt er zu mir, wir schlafen zusammen, dann frühstücken wir und er geht wieder nach Hause», sagte Barbara. «Dann war es für mich in Ordnung», sagt Marcel. «Ich wusste, Pierre ist ein Mensch, der wie ich, Barbara liebt. Aber auf eine andere Art, er nimmt mir damit also nichts weg.» Er konnte sich schliesslich sogar für Barbara freuen. Auch, weil er weiss, dass er für sie die Nummer eins ist.

Regel 3: Es gibt eine Nummer eins

Ein weiteres Merkmal der Polyamorie ist, dass es engere und weniger enge Beziehungen gibt und diese unterschiedlichster Art sein können: Stehe bei der einen Beziehung die Freundschaft im Vordergrund, könne das bei der anderen die Erotik sein.
«Wenn diese neue Frau von Marcel mich von meinem Podest wegstossen würde, wäre mir das nicht recht. Wir sind die Wichtigsten füreinander, Marcel ist mein Lieblingsmensch», sagt Barbara. Marcel strahlt. Es sei wie bei einer Freundschaft: je mehr Zeit man miteinander verbringe, desto intensiver, desto enger sei die Beziehung. Marcel sagt: «Wir dürfen gegenseitig zuerst die freien Flecken in der Agenda besetzen.»

Keine Entscheidungen

Marcel lebt seit fünf Jahren polyamor. Zuvor war er dreissig Jahre verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne. Bei Barbara ist es ähnlich, ausser, dass sie im polyamoren Gebiet schon erfahrener ist. Sie hatte während der Ehe immer wieder Affären, verliebte sich in andere Männer. «Ich konnte das nicht ausschalten», sagt sie. Sie versuchte deshalb, mit ihrem Mann eine offene Beziehung zu leben. «Aber das klappte nicht.» Vor acht Jahren trennten sie sich, seither lebt Barbara offen polyamor.

«Zum ersten Mal habe ich eine Beziehungsform gefunden, bei der ich mich nicht entscheiden muss. Ich weiss, dass Barbara und ich auch in 20 Jahren noch zusammensein werden», sagt Marcel. «Ich habe uns schon auf dem Bänkli sitzen sehen, mit den dritten Zähnen, wie wir uns von unseren polyamoren Abenteuern erzählten.» Barbara lacht. Diese Vision habe er sich früher, als «Mono», nie vorstellen können.

«Ich kenne mich. Ich weiss, dass ich mich immer wieder verliebe. Das hat früher immer mein Leben durcheinandergebracht. Weil ich mich entscheiden musste.» — «Wir verstehen nicht, warum man eine bestehende Beziehung beenden muss, wenn eine neue Liebe kommt», sagt Barbara und Marcel nickt. Freundschaften könne man auch mehrere gleichzeitig haben.

«Wir verstehen nicht, warum man eine bestehende Beziehung beenden muss, wenn eine neue Liebe kommt»

Beziehung als Mobile

Polyamorie sei eine grundsätzliche, innere Haltung. Barbara nennt als Beispiel den Vogel, der im Käfig sitzt. Die Türe zum Käfig soll in der Polyamorie offen sein. «Damit der Vogel selbst entscheiden kann, ob er drin bleiben oder rausgehen möchte», sagt Barbara. «Wir wollen die Liebe nicht einschliessen»

Sie fügt an: «Liebe ist etwas Freies, nichts Exklusives. Der Partner gehört einem nicht.» Und Marcel ergänzt: «Poly sein, heisst, anderen zu sagen: Du wirst mich nie besitzen können.» Eine Beziehung sei immer fragil — «wie ein Mobile», meint Barbara. Die Elemente, die daran hingen, fielen erst mal aus dem Gleichgewicht, wenn ein neues Gewicht dazukäme. «Dann braucht es Geduld und Gespräche, damit man das wieder ins Gleichgewicht bringen kann und das neue Element auch seinen Platz hat», sagt Barbara.

Wie handhabt man die emotionale Abgrenzung in einer polyamoren Beziehung? Geht es bei gewissen Partnern nur um Lust und bei anderen um Lust und Liebe? «Beides ist möglich», sagt Barbara. Die Freude an Sinnlichkeit und Erotik sei vielen polyamoren Menschen eigen. Der Komplexität und Vielfalt dieses Themas könne man nicht in einem einzigen Gespräch gerecht werden.

Es liegt im Trend, sich nicht entscheiden zu müssen. Die Treffen unter den Polyamoren, die sogenannten Poly-Stammtische, sind grösser geworden. Vor allem Leute ab 40 würden an einem Stammtisch teilnehmen. Und es kommen mehr Frauen als Männer. «Viele sind seit Jahrzehnten in einer Beziehung, und fragen sich, ob das alles war», sagt Marcel.

«Schlechtes Vorbild»

Auch wenn die Poly-Gemeinschaft wächst, gebe es noch immer wenig gesellschaftliche Akzeptanz, das Outing sei schwierig. «Bei vielen geht dann das Kopfkino los, wenn ich von meiner Lebensweise erzähle», sagt Barbara. «Sie denken an Swinger, Sexorgien oder Tantra. Machmal spüre ich auch eine unterschwellige Angst gegenüber meiner Lebensform.» Barbara arbeitet in einem Jugendheim. Als ihre Chefin von ihrer Polyamorie erfuhr, bezeichnete sie Barbara als «schlechtes Vorbild» mit einem «schlechten Einfluss» auf die Jugendlichen. Sie verbot ihr, dass Marcel mit ihr im Heim übernachten darf — obwohl das bei anderen Paaren in Ordnung ist. «Ich war sprachlos, als sie mir das sagte und fragte mich: Kann Liebe überhaupt etwas Verbotenes sein?»

«Poly sein, heisst, anderen zu sagen: Du wirst mich nie besitzen können.»

Gegenüber polyamoren Männern fallen andere Kommentare. «Als Mann bist du ein Hengst, du kannst stolz sein, dass du mehrere Frauen hast. Als Frau bist du schnell die Schlampe, die mit jedem ins Bett geht», sagt Marcel. Er hätte auch schon erlebt, dass gewisse an einen Stammtisch kommen und erst dort merken, dass ihre Lebensform normal sei: «Sie wurden von ihren Hausärzten als krank bezeichnet», sagt Marcel.

Barbara ist sich sicher: «Wenn mehr Leute besser über die Polyamorie informiert wären, könnte man viel Leid verhindern. Viele Ehen hielten länger.» Polyamorie sei nicht besser als andere Beziehungsformen, vielmehr eine lebbare Alternative. Barbara und Marcel setzen sich dafür ein, die Polyamorie dafür bekannter zu machen. «Wir sind das beste Beispiel dafür.» *alle Namen geändert.

Lisa Aeschlimann

© Tamedia