«Utopien sind immer gefährlich»

Pascal Couchepin (74) philosophiert mit Tamara Funiciello (26) darüber, wie man die Welt verändert.

Der Alt-Bundesrat und die Juso-Präsidentin in Martigny. Fotos: Raisa Durandi

Der Alt-Bundesrat und die Juso-Präsidentin in Martigny. Fotos: Raisa Durandi

Couchepin: «Uns geht es besser als vor 60 Jahren.»

Funiciello: «Die Schweiz profitiert von der Welt.»

Mit Tamara Funiciello und Pascal Couchepin sprachen Alan Cassidy und Philipp Loser
Martigny

Er braucht noch einen Moment, «acht Minuten nur, wie im Militär!». Eine kleine Dusche will Pascal Couchepin (FDP) nehmen, sich frisch machen, und von den Wanderkleidern in etwas wechseln, was wohl die übliche Garderobe für ehemalige Staatsmänner ist: rosa Hemd, Freizeithosen, Sandalen.

Während Couchepin (74) duscht, sitzt sein Gast im Salon des Alt-Bundesrats in Martigny und kann das Staunen kaum verbergen. Die neue Juso-Präsidentin Tamara Funiciello ist fast fünfzig Jahre jünger als Couchepin, aktiv hat sie ihn in der Politik nicht mehr bewusst erlebt. Sie hat ihn gegoogelt, aber ob das reicht, um sie auf die nächste Stunde vorzubereiten? Exakt acht Minuten nach seinem Abgang ist er wieder da, setzt sich an den Tisch, und übernimmt gleich die Gesprächsführung. Er will jetzt ein paar Dinge wissen. Schnell wird klar: Sie will ihm auch ein paar Dinge sagen.

Couchepin: Bevor wir anfangen, würde ich gerne wissen: Warum sind Sie Jungsozialistin geworden?

Funiciello: Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt, ich bin Migrantin, mein Vater ist Italiener. Meine Eltern waren selber immer politisch aktiv, aber eher ausserparlamentarisch.

Couchepin: In der Schweiz? Oder auch in Italien?

Funiciello: An beiden Orten.

Couchepin: In welcher Partei?

Funiciello: In Italien bei der Rifondazione Comunista, in der Schweiz im Umfeld der Berner Reitschule und in der Jugendbewegung der 1980er-Jahre. Wie war das bei Ihnen, Herr Couchepin?

Couchepin: Ich habe meinen Vater nicht gut gekannt, er starb, als ich fünf Jahre alt war. Wir sind Sprösslinge einer Familie, die schon zur Gründung des Bundesstaates liberal war. Auf mütterlicher Seite waren fast alle Frauen italienischer Herkunft. Sie kamen im 19. Jahrhundert in die Schweiz, viele waren Carbonari, also Antimonarchisten und Antiklerikale – bürgerliche Leute, die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auswanderten. Ich habe Recht studiert, wurde Anwalt und Politiker, mit einer Karriere, die mich bis an den Gipfel trug.

Sommerserie: Generationen im Gespräch

In unserer Sommerserie treffen Generationen aufeinander und reden über Veränderungen, die die Schweiz bewegen. Den Anfang machen Juso-Präsidentin Tamara Funiciello und Alt-Bundesrat Pascal Couchepin, die über eine bessere Welt philosophieren. In Teil zwei (online ab 28. Juli) diskutieren Rolf Lyssy und Petra Volpe über den Schweizer Film, damals und heute. Zwei ehemalige Flight Attendants der Swissair respektive Swiss landen im dritten Teil (online ab 1. August) beim Thema Wandel über den Wolken.

Wollen Sie auch einmal Bundesrätin werden, Frau Funiciello?

Funiciello: (lacht) Ich glaube nicht, dass ich je Bundesrätin werde. Dafür bin ich zu wenig kompromissbereit. Vor den letzten Bundesratswahlen haben Sie, Herr Couchepin, gesagt, dass sich jeder Anwärter für das Amt entscheiden müsse: Ob er Parteisoldat oder Staatsmann sein möchte. Ich bin momentan gerne Parteisoldatin.

Couchepin: Das stört mich nicht, solange es klar ist. Was ich aber gerne von Ihnen wissen möchte: Was sind die intellektuellen Wurzeln Ihres linken Engagements?

Funiciello: Ich bin Marxistin, ganz klar.

Und das heisst konkret?

Funiciello: Ich bin der Überzeugung, dass die materiellen Gegebenheiten unser Sein bestimmen. Wenn wir das Bewusstsein der Menschen ändern wollen, müssen wir die materiellen Gegebenheiten ändern.

Couchepin: Aber alle Versuche, die marxistische Theorie in die Praxis umzusetzen, sind doch gescheitert. Mit grossen Kosten für die Menschheit! Wie können Sie da noch Marxistin sein?

Funiciello: Die Demokratie hat 2500 Jahre gebraucht, bis sie am heutigen Punkt ankam. Der Marxismus ist ein Prozess. Die praktischen Versuche sind gescheitert, weil sie isoliert stattfanden, in einem Land. Und sie sind gescheitert, weil sie von oben herab verordnet wurden. Natürlich wissen wir seit Stalin: Das funktioniert nicht. Ich bin für einen demokratischen Sozialismus in einer Gesellschaft, die sich bewusst dafür entscheidet.

Couchepin: Dann hoffe ich, dass Sie uns nicht die nächsten 2500 Jahre mit Versuchen plagen, das marxistische Paradies einzuführen. Der Marxismus ist keine friedliche Vision. Es ist das Bild einer Gesellschaft, in der sich die Klassen erbittert bekämpfen. Und in der Regel wurde der Marxismus über Gewalt eingeführt. Ist es das, was Sie wollen?

Funiciello: Ist denn der Kapitalismus friedlich, wenn man die heutige Welt anschaut? Eine Milliarde Menschen hungert! Im heutigen Kapitalismus entscheidet nur noch das Kapital. Ich bin für eine Gesellschaft, in der demokratisch darüber entschieden wird, was man macht und was nicht. Aber in unserer Demokratie stossen wir an Grenzen. Wir entscheiden nicht mehr selbst, was und wie wir arbeiten.

Couchepin: Natürlich wäre es schön, wenn man rein politisch entscheiden könnte. Aber das ist eine Utopie, und Utopien sind immer gefährlich. Denn sobald die Utopisten merken, dass die Realität nicht mit ihrem Traum übereinstimmt, wollen sie ihn mit Gewalt erzwingen. Politik heisst deshalb, mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Realität zu entscheiden. Natürlich ist der Kapitalismus von heute nicht mehr der gleiche, mit dem ich aufgewachsen bin. Aber Sie können doch nicht bestreiten, dass die Lage der Menschen heute besser ist als vor 60 Jahren. Als älterer Mann kann ich das recht gut überblicken. Die Leute sind freier als früher.

Frau Funiciello, sind Sie eine Utopistin?

Funiciello: Ich habe eine Utopie, das streite ich gar nicht ab. Aber auch Sie muss doch etwas antreiben, Herr Couchepin. Ich habe Sie ja nicht mehr aktiv erlebt, deshalb habe ich Sie gegoogelt – und ich bin mir nicht sicher, wofür Sie stehen. Sind Sie jetzt Etatist oder Turboliberaler? Wie sieht Ihre Utopie aus? Man muss doch eine Vision davon haben, wie die Welt aussehen soll. Dafür geht man ja in die Politik.

Couchepin: Meine Vorstellung ist, dass sich die Gesellschaft entwickelt und verändert, im permanenten Streit um die richtigen Ideen. Wie diese Entwicklung aussieht, kann niemand voraussagen. Und in der Schweiz sehen wir, dass die Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten eine gute war. Wir haben mehr politische Rechte, mehr freie Debatten und mehr Möglichkeiten. Sie und Ihre Familie sind ein Beispiel dafür! Sie bekämpfen uns, aber wir akzeptieren das.

Funiciello: (lacht) Na ja, bekämpfen ist das falsche Wort ...

Couchepin: Doch, Sie wollen die Gesellschaft nicht, in der wir leben, und wir sind dankbar für diese Kritik. Sie sind der Stachel in unserem Fleisch. Aber ich hoffe, dass Sie nie die Mehrheit haben!


«Sie sind der Stachel in unserem Fleisch.»

Politisierung, Vorbilder, Selbsteinschätzung und Gegenüber: Tamara Funiciello (Juso) und Pascal Couchepin (FDP) beantworten vier Fragen. Video: Raisa Durandi

Couchepin und Funiciello, privat und politisch

1942

Pascal Couchepin wird am 5. April in Martigny VS geboren. Seine Familie ist politisch aktiv; der Vater im Grossrat, der Grossvater im Nationalrat und als Stadtpräsident.

1968

Couchepin legt das Anwaltsexamen ab und wird in den Gemeinderat von Martigny gewählt. Von 1984 bis 1998 amtet er in seiner Heimat als Stadtpräsident.

1979

Couchepin betritt die nationale Bühne: Er wird in den Nationalrat gewählt. Von 1989 bis 1996 ist er Fraktionschef der FDP.

1990

Tamara Funiciello wird am 20. März in Bern geboren. Sie wächst als Kind einer Schweizerin und eines Italieners in Italien auf und kehrt 2000 nach Bern zurück. Die Eltern sind im linken Spektrum politisch aktiv, engagieren sich im ausserparlamentarischen Bereich.

1998

Pascal Couchepin wird in den Bundesrat gewählt. Es ist die Konsequenz seines Werdegangs: Der Walliser hat nie ein Geheimnis um seine Ambitionen gemacht. Er ist zuerst Wirtschaftsminister und wechselt 2003 ins Innenministerium.

2009

Couchepin tritt aus dem Bundesrat zurück. Seine Amtszeit ist geprägt von harten Kämpfen gegen rechts, die gerne auch in der Öffentlichkeit ausgetragen werden: Er ist Christoph Blochers Gegenspieler, der von 2003 bis 2007 mit ihm im Bundesrat sitzt.

2010

Tamara Funiciello, sie studiert inzwischen internationale Beziehungen in Genf (später Geschichte in Bern), gründet die Juventud Brigadista, eine Jugendabteilung der Brigada Latino Bernesa. Die Hilfsorganisation wurde von ihren Eltern ins Leben gerufen und unterstützte die revolutionären Kräfte in Nicaragua.

2012

Funiciello ärgert sich in einer Vorlesung über einen Professor, der die Jugend apolitisch schimpft, und tritt noch in der gleichen Vorlesung den Juso bei. Rasch ist sie Vorstandsmitglied der Berner Juso, ab 2014 deren Co-Präsidentin. Gleichzeitig wird sie auch Mitglied der Geschäftsleitung der SP des Kantons Bern.

2013

Funiciello wird Gewerkschaftssekretärin der Unia in Bern.

2016

Als erste Frau wird Funiciello zur Präsidentin der Juso Schweiz gewählt. Ihren Job als Gewerkschaftssekretärin gibt sie auf, das Geschichtsstudium muss auch warten. Couchepin geniesst derweil sein Rentner- und Grossvaterdasein in Martigny.

Herr Couchepin, als Liberaler sind Sie Optimist. Ist Ihre Hoffnung in die Zukunft ungebremst gross?

Couchepin: Meine Enkel werden es schwieriger haben als ich. Das Leben war für jemand wie mich früher einfacher: Mit einem Studium erhielt man garantiert einen Job. Wegen der technischen Entwicklung ist das nicht mehr so. Das ist die wahre Revolution, die im Gange ist, nicht die politische! Und das macht Sie, Frau Funiciello, zur Konservativen: Sie werden im Namen einer gerechten Gesellschaft alles verhindern wollen, was der technologische Wandel mit sich bringt.

Funiciello: Das glaube ich nicht. Mein Ziel ist eine gerechte Gesellschaft, in der die Politik über die Wirtschaft entscheidet und nicht umgekehrt. Das ist heute aber nicht der Fall. Angestellte von Fabriken werden heute vor die Wahl gestellt, tiefere Löhne und längere Schichten zu akzeptieren – oder der ganze Betrieb wird ausgelagert. Das hat mit Freiheit nichts zu tun.

Couchepin: Das sind nun mal eben die Folgen des Wandels, der Globalisierung. Das lässt sich nicht aufhalten. Zu Beginn der 1990er-Jahre wollten die SP und die Gewerkschaften ein faktisches Verbot der Informatik. Eine nationale Kommission sollte Ausnahmen definieren, wo Informatik zulässig ist. Die Linken sagten, die Computer zerstörten Arbeitsplätze. Und übersahen, dass dadurch auch viele neue entstanden.

Funiciello: Es ist doch so: Die Produktivität steigt und steigt, und trotzdem arbeiten wir immer noch gleich lange wie früher. Das muss doch nicht sein.

Herr Couchepin, sind das immer noch die gleichen Grundsatzfragen, die Sie heute umtreiben?

Couchepin: Die Probleme haben sich geändert. In der alten Schweiz war alles klein gedacht, es herrschte grosse Vorsicht. Die Entkolonialisierung und die Emanzipation grosser Teile der Welt von Europa prägten aber auch die Debatte bei uns – genauso wie die Zeitenwende von 1989, als alle das Ende der Geschichte ausriefen. Und dann natürlich Europa: Um die EU drehte sich zunehmend auch in der Schweiz alles. Auch heute.


«Wären doch nur alle Liberalen so wie Sie.»

Wie sehen Sie als junge Linke die EU heute, Frau Funiciello?

Funiciello: Wir romantisieren die EU nicht mehr so, wie es ältere Genossinnen und Genossen vor uns getan haben. Wir haben einen kritischeren Blick. Aber natürlich: Wir sind Internationalistinnen, Sozialismus funktioniert nicht in einem Land alleine. Aber ob die EU dazu das richtige Gebilde ist? Ich bezweifle es, wenn ich an Themen wie die Rechte der Arbeitnehmenden und den Umweltschutz denke. Natürlich würden wir anstossen, wenn wir morgen in der EU Mitglied wären. Aber muss man das jetzt forcieren? Nein.

Couchepin: Ich verstehe nicht ganz: Sind Sie jetzt für oder gegen einen Beitritt?

Funiciello: Es ist mir egal.

Couchepin: Wie bitte? Das können Sie doch nicht sagen! Natürlich denken Sie gerne in Utopien, aber das hier ist ein reales Problem. Sie müssen sich entscheiden! Es geht immerhin um das Verhältnis zu unserem grössten Kunden und Lieferanten. Unserem Nachbarn!

Funiciello: Natürlich müssen wir im Moment die Bilateralen und die flankierenden Massnahmen stärken. Der Entscheid über die Masseneinwanderungsinitiative war die grösste Katastrophe in meinem politischen Leben, weil wir unsere Beziehung mit der EU aufs Spiel gesetzt haben.

Couchepin: Also: Wir sind beide für gute Beziehungen mit der EU, aber gegen einen Beitritt. Doch reden wir über Umweltschutz, denn das beschäftigt mich schon lange: Wie kommt es, dass im real existierenden Sozialismus die Umwelt so sträflich ignoriert wurde? Bei uns ist es auch nicht perfekt, aber der Unterschied zu ehemaligen sozialistischen Ländern ist riesig.

Funiciello: Sie dürfen das Problem doch nicht örtlich isoliert betrachten. Der Schweiz geht es nicht einfach gut, weil wir in einer liberalen Gesellschaft leben, sondern weil wir in grossem Masse von der Welt profitieren. Vom Schwarzgeld, von der Billigarbeit in anderen Ländern. Wir beherbergen Firmen wie Glencore bei uns, die auf der ganzen Welt für Umweltkatastrophen verantwortlich sind. Und da soll der real existierende Sozialismus das Problem sein? Umwelt und Soziales müssen Hand in Hand gehen, wir brauchen eine Wirtschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.

Couchepin: Das will ich auch!

Funiciello: Ha! Wenn alle Liberalen in der Schweiz so wären wie Sie, hätten wir viel weniger Probleme!

Couchepin: Der Unterschied ist: Sie glauben, die Bedürfnisse der Menschen zu kennen. Und ich glaube, die Menschen sind frei, ihre Bedürfnisse zu wählen.

Sind die Menschen in Ihrem Weltbild nicht frei, Frau Funiciello?

Funiciello: Ist die Detailhandelsfrau frei, die bei Chicorée 3800 Franken im Monat verdient? Kann sie wählen, was sie mit ihrem Leben anfängt? Kann sie nicht!

Couchepin: Ich komme aus einer Familie mit grosser Tradition, aber wenig Geld. Als ich 20 Jahre alt war, hatte ich pro Woche einen Franken Sackgeld, den ich für einen Kaffee oder eine Zeitung ausgegeben habe. Das hat mich weder unter Druck gesetzt, noch meine Freiheit beeinträchtigt. Wir haben eine andere Vorgehensweise: Sie möchten gerne alle Probleme auf einen Schlag lösen, und das geht nicht. Ich bin eher dafür, unsere Gesellschaft Schritt für Schritt zu verbessern. Und wenn man die vergangenen Jahrzehnte in der Schweiz anschaut: Es funktioniert.

«Alle Probleme auf einen Schlag lösen geht nicht.»

Sie sprechen beide oft von Ihrer Familie. Welche Rolle spielte die für Ihr politisches Engagement?

Couchepin: Eine entscheidende. Prägend war für mich der Tod meines Vaters. Er starb an einem Herzinfarkt im Militär. Uns ging es finanziell schlechter nach seinem Tod, aber meine Mutter hat nie geklagt. «Mein Mann war Offizier», hat sie gesagt, «er wusste um die Risiken». Wenn es nötig sei, müsse man sich für das Land opfern. Mein Bruder wurde kurz vor der Anwaltsprüfung Berufsoffizier, meine ältere Schwester war Direktorin einer Krankenschwesternschule. Der Dienst am Land, an den Mitmenschen – das hat mich geprägt. Ich bin in einer christlichen Tradition aufgewachsen, habe trotz meines katholischen Glaubens eine Spur Zwinglianismus in mir, bin ein Kind der Aufklärung, der Vernunft sowie Patriot. Da blieb nur die FDP übrig.

Funiciello: Bei mir war auch die Familie entscheidend. Meine Eltern waren im linken Kuchen aktiv, waren beispielsweise in Nicaragua und haben die Revolution unterstützt. Damals haben sie die Hilfsorganisation Brigada Latino Bernesa gegründet, die heute noch aktiv ist. Meine allererste politische Erfahrung war die Gründung der Jugendabteilung dieser Organisation, die Juventud Brigadista. Prägend war für mich auch, als mein Vater seine Arbeit bei der Wifag verlor und er darum streikte. Vor meiner Juso-Mitgliedschaft war ich bei den Gewerkschaften. Darum bin ich wohl auch nicht ganz so extrem, wie ich manchmal wirke. Die Juso braucht es für die utopische Arbeit, die Gewerkschaften, um die individuellen Interessen der Menschen zu vertreten. Und dabei muss man manchmal auch pragmatisch sein.

Couchepin: Das ist sehr interessant. In Nicaragua war ich auch. Allerdings, um die liberalen Kräfte und nicht die Revolution zu unterstützen.

Funiciello: Wer hätte das gedacht!

Herr Couchepin, der Konterrevolutionär?

Couchepin: Das war zu Beginn der 1980er-Jahre, und ich war schon Nationalrat. Ich hielt sogar eine Rede! Auf einem Marktplatz in der zweitgrössten Stadt von Nicaragua. Der Staat wollte den Handel verstaatlichen, ich habe den Marktfrauen Mut zugesprochen. Auf Spanisch! «Bleiben Sie hoffnungsvoll», habe ich gesagt, «die Nacht dauert nicht ewig.» Es kam dann ja alles gut: Nicaragua ist ein weiteres Beispiel dafür, wie spektakulär der Sozialismus zu scheitern pflegt.

Auch der Streik Ihres Vaters scheiterte, Frau Funiciello.

Couchepin: Das ist ein gutes Beispiel. Die Wifag war einer der besten Hersteller für Druckmaschinen. Druckmaschinen, die heute niemand mehr braucht. Ich respektiere den Mut Ihres Vaters und seinen Einsatz. Aber am Schluss hat er versucht, mit einem Streik den technischen Fortschritt aufzuhalten.

Funiciello: Das war nicht sein Fehler. Es darf nicht sein, dass die Menschen von solchen Mechanismen abhängig sind.

Couchepin: Mit Streiks holt man sich keinen funktionierenden Markt zurück.

Funiciello: Es hätte doch andere Möglichkeiten gegeben! Man hätte beispielsweise einfach weniger arbeiten können. Mit einer 25-Stunden-Woche gäbe es die Firma immer noch.

Couchepin: Und wer hätte dafür bezahlt?

Funiciello: In meiner Welt zahlt niemand mehr. (lacht)

Schauen wir zum Schluss noch in die Zukunft: Immer öfter werden die Jungen von den Alten überstimmt. Das Problem wird sich wegen der Demografie noch verschärfen. Was tun?

Funiciello: Das ist ein herbeigeredetes Problem. In einer Demokratie hat jede Frau und jeder Mann eine Stimme. Die Jungen irgendwie stärker zu gewichten, ist Quatsch. Viel wichtiger wäre es, den Ausländern das Stimmrecht zu geben. Heute können 25 Prozent aller Bewohner der Schweiz nicht am politischen Prozess teilnehmen.

Couchepin: Ich halte das Problem im Gegensatz zu Ihnen für real. Aber es braucht keine zusätzlichen Massnahmen, ich bin auch gegen das Stimmrechtsalter 16. Ein junger Mensch muss zuerst beobachten und lernen, bevor er selber entscheiden soll. Was es von uns Alten braucht, ist etwas Menschenverstand. Meine Mutter ist 92 Jahre alt geworden. Vor Abstimmungen hat sie jeweils ihre Enkel gefragt, was ihnen am meisten nützen würde. Genau so wächst das Verständnis zwischen den Generationen. Ich selber habe neun Enkel, die ich dann irgendwann auch nach ihrer politischen Meinung fragen werde.

Funiciello: Ist schon einer der Enkel in der Juso?

«Ist einer Ihrer Enkel in der Juso?» – «Nein!»

Couchepin: Nein! Aber ich bin froh, gibt es die Jungsozialisten. Ich kann Ihre Ideen nachvollziehen und kämpfe mit Argumenten dagegen. Ihnen geht es gleich. Das ist interessant, das bringt uns weiter. Wir brauchen diesen Austausch zwischen den Generationen. Oft ist diese Debatte mit jungen Linken viel fruchtbarer als mit Jungen, die ohne Nuancen rechts stehen. Sie haben eine sektiererische Haltung, die ans Fanatische grenzt. Das sind keine Liberalen.

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